Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie by Rafael Cardoso

Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie by Rafael Cardoso

Autor:Rafael Cardoso [Cardoso, Rafael]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104038186
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Teil III

Sie schiffen sich ein und landen

März 1941

Als sie um 8 Uhr 30 nach oben gingen, war das Vorderdeck schon voller Leute. Der Kapitän hatte angekündigt, dass wohl an diesem Vormittag Land in Sicht käme, eine erfreuliche Aussicht nach beinahe drei Wochen auf See. Starke Erregung trat an die Stelle der Trägheit, die bislang unter den Passagieren geherrscht hatte. Die Kinder rannten doppelt so wild umher, während ihre Eltern sie mit einer Dringlichkeit zur Ordnung riefen, die in den letzten Tagen fast verebbt war. Selbst die lustlose spanische Crew nahm eine straffere seemännische Haltung an und entbot den Passagieren einen enthusiastischen morgendlichen Gruß. Die gesamte Atmosphäre auf dem Schiff wirkte aufgeladen, und die Tatsache, dass gutes Wetter angekündigt war, ließ die Erwartungen auf den Gipfelpunkt steigen. Diejenigen, die die Reise nicht zum ersten Mal unternahmen, sprachen von der Ankunft in Rio de Janeiro in den höchsten Tönen, dieses Schauspiel dürfe man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Sie zitierten dabei auch die Meinungen berühmter Reisender von Manet über Darwin bis zu Kipling, die dafür einstanden, dass die Einfahrt in die Bucht von Guanabara eines der schönsten Panoramen der Welt biete.

Hugo fiel auf, dass sich die Luft verändert zu haben schien. Sie brachte einen Geruch, der sich von der salzigen Meeresbrise unterschied, an die sie sich mittlerweile gewöhnt hatten. Er versuchte, Gertrud diese Wahrnehmung nahezubringen.

»Kannst du es denn nicht riechen? Da liegt etwas Schwereres im Wind. Das muss der Duft des Landes sein, die tropischen Regenwälder.«

»Also, heißer ist es, das stimmt. Aber riechen kann ich nichts. Wahrscheinlich bildest du dir das nur ein.«

Er freute sich über ihren Widerspruchsgeist. Während des letzten Ausbruchs ihrer Krankheit in Vigo war sie zu schwach gewesen, um sich über etwas zu echauffieren. Ein paar Tage bevor sie in See gestochen waren, hatte er schon das Schlimmste befürchtet, aber die Wochen auf See hatten sichtlich belebend auf sie gewirkt. Es gelang ihnen, sich einen Platz in der Nähe der Reling zu sichern, wo sie sich den Mitreisenden anschlossen, die hinaus zum Horizont starrten. Hugo dachte ans Frühstück. Eine gute halbe Stunde verging in stiller Langeweile, bis schließlich der Ruf vom Bug des Schiffes erscholl: »Tierra a la vista!« Land in Sicht! Der alte Ausdruck lief von Mund zu Mund, in einer Hochstimmung, die kaum zu den zweifelhaften Zukunftsaussichten vieler, wenn nicht der meisten Passagiere passen wollte.

Die Umrisse von Bergen und Hügeln begannen sich fern am Horizont abzuzeichnen. Zunächst wirkten sie verschwommen und unwirklich, als wären sie nicht aus Stein, sondern aus irgendeiner Art Dunst. Die erste Ansicht von Brasilien war wie aus einem Traum. Hugo prägte sich seine Eindrücke genau ein, überzeugt, dass ihm später einmal daran liegen würde, sie wachrufen zu können. Zwar hatte er nie zu einer mystischen oder religiösen Weltsicht geneigt, aber er konnte doch nicht umhin, eine tiefe Symbolik hinter den Erscheinungen zu erkennen, die sich ihm hier darboten. Eine geschärfte Wahrnehmung von Klängen und Geräuschen umhüllte ihn. Auf einmal war er sich sehr des eigenen Atems bewusst. Er verharrte auf seinem Platz, ohne sich zu rühren.



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